Steiner

Gross war das Echo auf den 150. Geburtstag von einem, der von seinen Anhängern bis heute verehrt wird und dessen Lehre von den andern schon zu Lebzeiten mit Skepsis beäugt wurde. Umso bemerkenswerter ist die Resonanz, die Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, gegenwärtig von nicht anthroposophischen Kreisen erfährt. Mehrere der im letzten Jahr erschienenen Biographien entstanden ausserhalb des Steinerschen Dunstkreises – ebenso die unter dem Titel ‘Rudolf Steiner. Die Alchemie des Alltags’ dem künstlerischen Schaffen gewidmete Ausstellung, die nach Zwischenstopps in Stuttgart, Wolfsburg und Wien Mitte Oktober im Vitra Design Museum in Weil zu sehen ist.

Woher kommt dieses scheinbar plötzliche Interesse? Oder müsste man eher nach den Gründen fragen, warum es so lange dauerte, bis es zu einer Auseinandersetzung mit Steiner kommen konnte, bei der er weder als Messias hochstilisiert, noch als ‘Astral-Marx’ diffamiert wird?

Eine der Hauptursachen dürfte letztlich mit dem Erfolg der von Steiner in Gang gesetzten Bewegung zusammenhängen. Seine esoterisch durchdrungene Philosophie war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung keineswegs eine Einzelerscheinung. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die Kritik am durch den ersten Schub der Industrialisierung bedingten materialistischen Weltbild und die Suche nach einer Alternative verbreitet. Bis in die Zwanziger Jahre hinein entstanden verschiedene Gemeinschaften, die ihren Mitgliedern versprachen, sie in ein mit der menschlichen Natur in Einklang stehendes Leben zurückzuführen. Aber kaum eine dieser Lehren wurde so tatkräftig umgesetzt wie Steiners Anthroposophie. Sie konnte ihren Fortbestand nicht nur bis heute sichern, sondern ihren Einfluss stetig vergrössern und deckt mittlerweile praktisch alle menschlichen Belange ab: Sie prägt pädagogische Einrichtungen, Heilmittel, Ernährung und vieles anderes mehr. Sie wird sichtbar in Material, Form- und Farbgebung von Bildern, Skulpturen, Architektur und Design. Und sie macht dies auf eine derart auffällige Weise, dass sie zunächst kaum anders kann, als zu polarisieren. Die exponierte Lage eines der prominentesten Beispiele anthroposophischen Schaffens – das Goetheanum in Dornach – verunmöglicht ein Übersehen schlichtweg. Kaum jemand kommt umhin, in diesem Tempel irgendetwas zwischen einer Architektur gewordenen Skultpur oder einem lauernden Betonungeheuer zu sehen.
Aber trotz all dieser Vorbelastung könnte gerade das gestalterische Werk Steiners und seiner Anhänger die Gelegenheit zu einer nicht von Euphorie und Antipathie geprägten Beschäftigung bieten. Denn wo die theoretischen Lehren an ihrer esoterischen Begrifflichkeit kranken, scheint es grundsätzlich möglich, Gebäude und Alltagsgegenstände mehr noch als die bildende Kunst an dem zu messen, was sie letztlich sind: Wohnhaus, Stuhl und Bilderrahmen. Motiviert wird dieser neutrale Zugang auch durch eine äussere Verwandtschaft, die etwa von den Ausstellungsmachern zwischen der anthroposophischen Formensprache und einigen Entwürfen der Gegenwart wie Konstantin Grcics Stuhl ‘One’ oder Herzog & de Meurons Schaulager in Münchenstein ausmachen wollen. Die Legitimation eines solchen Vergleichs hängt allerdings davon ab, inwieweit ein rein äusserlicher Blick zur Erfassung der Steinerschen Entwürfe ausreicht. In Steiners Augen wäre allerdings bereits die dieser Betrachtungsweise zugrunde liegende Unterscheidung ketzerisch, geht es ihm doch bei der Gestaltung um die Überwindung der oberflächlichen Grenze zwischen Aussen und Innen, zwischen Materie und Geist.

Bleibt man trotz allem einmal bei der blossen Erscheinung der Objekte, fällt auf, wie ähnlich sie sich sehen. Möbel und Alltagsgegenstände sind fast immer mühelos als anthroposophisch identifizierbar. Sie besitzen offensichtlich einen bestimmen, eben anthroposophischen Stil. Seine Merkmale sind relativ leicht zu benennen. Die Ausstattung privater Innenräume konzentriert sich praktisch ausschliesslich auf Holz. Wobei mit Holz natürlich noch kein Stilmittel genannt, aber immerhin die Grundlage für die typische Oberflächengestaltung anthroposophischer Gegenstände gegeben ist. Im Zusammenhang mit metallenen Flächen könnte man von einer Punzierung sprechen – gemeint sind damit kleine, leicht plastische, zum Oval neigende Flächen, die durch die Bearbeitung mit einen Hammer mit gerundeten Enden zustande kommen. Ein vergleichbarer Effekt kann beim Holz durch die handwerkliche Bearbeitung mit einer halbmondförmigen Klinge des Stechbeitels erzeugt werden. Wie nach innen gewendete Schuppen eines Tannenzapfens überziehen diese Dellen ganze Schrankwände, Stuhllehnen oder Handläufe. Indem sie sich über alle Teile der Gegenstände erstrecken, steigern sie den bereits durch die Formgebung vermittelten Eindruck eines organischen Ganzen, bei dem die einzelnen Bestandteile kaum differenziert werden. Mit Louis Kahns Unterscheidung von Mücken- und Elefantendesign ausgedrückt, hätten wir es also eindeutig mit sensibeln Dickhäutern zu tun. Die Herausforderung dieser Objekte besteht nicht in der Verbindung ihrer einzelnen Teile, die je eine bestimmte Funktion erfüllen, sondern in der plastischen Gestaltung eines Formganzen. Auf Steiners Möbel trifft diese Beschreibung alleine schon deshalb zu, weil sie abgesehen von wenigen frühen Entwürfen durch ihre Masse und Behäbigkeit dem Bild des Elefanten nahe kommen.

Wie schon bei der Architektur des Goetheanums wird versucht, das Begrenzende von Flächen und Wänden zu unterlaufen, indem sich diese in konvex-konkaven Schwüngen auf den Betrachter zu und von ihm weg bewegen. Diese Dynamisierung erstreckt sich über Beine, Seitenwände und Rückenlehnen und lässt so organische Gebilde entstehen, die zuweilen wirken, als wären sie aus lebendiger Materie gehauen. Typisch für die dabei häufig auftretende kristalline Form ist eine nach oben strebende Bewegung, die gerade bei Schränken und Stühlen in einer höchsten Erhebung kulminiert. An diesen nach oben hin in geometrischen Formen zulaufenden Kopfteilen kommt es in der Regel zu einer Verdichtung der gegenläufig verdrehten Flächen.

Unterschiedslos ob in der Architektur, im Innenraum oder beim Einzelmöbel kommen diese Stilmerkmale zur Anwendung. Fast zwanghaft wirkt zuweilen das Bemühen, jeden rechten Winkel zugunsten einander zugeneigter Flächen selbst dort aufzugeben, wo es der Funktionalität der Sache zudienen würde. Dadurch wird der Eindruck eines auf jedes Objekt anwendbaren Stils zusätzlich verstärkt. Gleichzeitig provoziert gerade dieser gleichförmige Umgang auch die Frage nach dem Sinn der einzelnen Stilmerkmale.

Wie kann sich dem Nichteingeweihten ein anthroposophischer Innenraum erschliessen, wenn ihm die tiefere Bedeutung der Formgebung verborgen bleibt? Die höhlenartigen Gebilde laufen offensichtlich dem gängigen Verständnis von Design zuwider, indem sie zentrale Anliegen wie beispielsweise Zweckorientierung, einen innovativen Materialumgang oder die Forderung der sich kurz nach Steiners Tod formierenden frühen Moderne nach Licht, Luft und Öffnung mit Füssen treten. Es scheint praktisch unmöglich, unabhängig von Steiners Lehre ein Verständnis für die anthroposophische Formgebung zu entwickeln.

Tatsächlich sind die beschriebenen Merkmale nicht beliebig, sondern in jedem einzelnen von ihnen liegt ein tieferer Sinn. Bereits das Material Holz bietet von einem anthroposophischen Standpunkt aus gesehen den einzigartigen Vorteil einer selbst gewachsenen Struktur. Die für das Wachstum nötige Kraft wohnt dem verarbeiteten Material weiterhin inne und bringt es so in Einklang mit der Vorstellung einer sich stets im Wandel befindlichen Welt. Die für Steiner so zentrale, von Goethe übernommene Idee der Metamorphose, der ständigen Bildung und Umbildung der Natur, soll sich in der Formgebung spiegeln, ohne dass es zu einem naiven Abbildungsverhältnis von gestaltetem Objekt und Natur kommt. Die dynamische Gestalt ist Ausdruck der belebenden Kräfte, die Übergange statt Begrenzungen schaffen. Steiners Vorstellung, dass das sorgfältig und liebevoll ausgeführte Werkstück einen Teil der Seele seines Verfertigers in sich trägt, erklärt die sichtbar gemachte handwerkliche Herstellung. Die punzierte Oberfläche ist der lebendige Beweis für die seelischen Investitionen des Handwerkers.
Noch einen Schritt weiter geht die Begründung der gewundenen Flächen und der besonders akzentuierten oberen Abschlüsse: Beides soll nämlich einen Blick auf den geistigen Gehalt des Gegenstandes ermöglichen, den dieser kraft des Materials und seiner Bearbeitung besitzt. Die Vitalität des Baumes und die Liebe des Gestalters werden also nicht bloss physisch sichtbar, sondern führen zu einer echten Beseelung des Objekts. Die von Steiner empfohlene Formgebung garantiert dem Betrachter die Teilhabe an letzterem. Das Kopfteil eines Möbels imitiert dabei nicht einfach den menschlichen Kopf als geistiges Zentrum, sondern die nach oben strebende Position, die das Geistige nach Steiners Vorstellung ganz generell einnimmt. Die auf verschiedene geometrische Figuren anspielenden Formen dieser Abschlüsse sollen uns ausserdem dazu bringen, mathematische Operationen auszuführen und uns so rein geistigen Tätigkeiten hinzugeben. Dieser Prozess wird beim Anblick der Möbel unbewusst in Gang gesetzt, gewährt uns aber auch hier wieder einen beglückenden Blick auf die Ordnung, die letztlich den ganzen Kosmos zusammenhält.

Die kurzen Andeutungen lassen erahnen, wie stark der anthroposophische Stil auf einer bestimmten Weltsicht aufbaut und nur durch diese verständlich werden kann. Die im modernen Design klassischerweise auf bestimmte Zwecke rückführbaren Formen werden hier durch ein ganz spezifisches Weltverständnis bestimmt, das in der Architektur, aber auch im Möbelentwurf ein Fenster auf die kosmologische Ordnung öffnen will. Aber öffnet sich dieses Fenster auch demjenigen, der nichts von alledem weiss? Zumindest nach Steiners eigener Auffassung müsste ein rein intuitiver Zugang möglich sein. Und in einem gewissen Sinn beweist ja gerade die gegenwärtig stattfindende Auseinandersetzung, dass eine gewisse Anziehungskraft von diesen Gegenständen auszugehen scheint.

Wir sind noch immer im Zeitalter der Industrialisierung und erlebten gerade in der jüngsten Vergangenheit die Grenzen und die Einseitigkeit dieser Epoche. Insofern wird vielleicht verständlich, dass den spirituellen Bedürfnissen, die Steiner so umfassend zu bedienen wusste, auch in der Gestaltung von Alltagsgegenständen wieder mehr Gewicht beigemessen wird. Ob man allerdings seinen inneren Frieden nicht genauso gut in einem industriell hergestellten Sessel finden kann, ist damit zum Glück noch nicht entschieden.

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  1. 1Buch Collaboratively
  2. 2Buch Collaboratively
  3. 3Rudolf Steiner: Erstes Heizhaus in Dornach 1913 bis 1915