Offensichtlich tun wir uns mit den verschiedenen Geschmacksrichtungen beim Champagner weniger schwer als bei der Architektur. Einen herben «brut» am Abend eines heissen Sommertages geniessen wir fast alle. In der Architektur scheint der Zusatz «brut» dagegen nur bei Eingeweihten Begeisterung auszulösen. Die Mehrheit aber wünscht sich beim Gebauten mehr Zucker: Mindestens «demi-sec», d.h. einen sauber gestrichenen Verputz, soll es schon sein. Vielleicht sogar «doux» mit schönen Verzierungen.
Es dürfte also viele freuen, dass die Basis des architektonischen Brutalismus – der Beton – seit einiger Zeit nicht mehr bloss aus ästhetischer Sicht in die Schlusslinie gerät. Bei seiner Herstellung werden grosse Mengen an CO2 freigesetzt und beim Rückbau bedeutet das Recycling abermals viel Aufwand. In der Architektur wird deshalb nach klimafreundlicherem Baumaterial gesucht. Auch wenn bis heute kein anderer Baustoff häufiger verwendet wird als Beton, ist sein goldenes Zeitalter vorbei. Stolz gezeigtem Beton, wie beim vor zehn Jahren realisierten Wohn- und Geschäftsgebäude Volta von Buchner Bründler Architekten, begegnet man bei Neubauprojekten immer seltener.
Wäre das Ende einer Ära nicht ein guter Anlass, dem bereits verbauten Beton brut mit etwas mehr Gelassenheit gegenüberzutreten? Einen gelungenen Versuch dazu hatte das Schweizer Architekturmuseum mit seiner Ausstellung «Beton» gerade erst unternommen und dabei Hoffnungen, Befürchtungen, Utopien und die Unverzichtbarkeit des grauen Gemischs in der Schweiz des 20. Jahrhundert thematisiert. Die Denkmalpflege der Stadt Basel führt dieses Unternehmen weiter und organisiert in den kommenden Wochen verschiedene Führungen zu Betonikonen der Stadt. Und davon gibt es einige – etwa die Antoniuskirche von Karl Moser oder die Allgemeine Gewerbeschule von Hermann Baur. Hinzu kommen mit Brücken, Silos und Hafenterminals zahlreiche Infrastrukturbauten.
Eine weitere wortwörtlich etwas abseits gelegene Perle befindet sich an der Gundeldingerstrasse. Das von der Strasse abgerückte Brunnmatt-Schulhaus ist leicht zu übersehen. Dabei gibt es nur wenige Gebäude in Basel, die mit dem skulpturalen Erscheinungsbild der 1964 eröffneten Schule mithalten können. Hinter dem Bau steht mit Walter Förderer einer der wichtigsten Schweizer Betonkünstler, der innert weniger Jahre mit Schul- und Kirchenbauten einen mächtigen Eindruck in der Schweizer Architekturlandschaft hinterlassen hat. Als ausgebildeter Bildhauer entwickelte er seine Bauten nicht allein aus funktionaler Notwendigkeit und ökonomischen Selbstbeschränkung heraus wie viele seiner Kollegen. Seine Formsprache scheint vielmehr das Resultat gewaltiger Meisselschläge, mit denen er dem formlosen Klumpen Material abringt. Dass diese Entwurfshaltung mit Beton besser umgehen kann, als mit anderen Baumaterialien hatte nach dem Zweiten Weltkrieg prominenterweise Le Corbusier gezeigt. Eine Restriktion bildet dabei die Holzschalung, in die der Beton gegossen wird.
Nicht zuletzt deshalb bevorzugt Förderer mehrheitlich orthogonale Strukturen. Aus zahllosen Kuben und Quadern entstehen so aussen wie innen komplexe Gebilde, die bis ins letzte Detail durchgestaltet sind: Die von der Schalung im Beton zurückbleibenden Abdrücke der Holzmaserung, die Vor- und Rücksprünge für Abfallkübel und Steckdosen, die Anordnung der mit dem rohen Beton kontrastierenden Holzpanele an Wänden und Decken – Förderer überlässt nichts dem Zufall und lässt sich doch nicht in die Karten schauen. Was hält dieses Gebilde zusammen?
In einem Artikel zum eng verwandten und fast gleichzeitig fertig gestellten Neumatt-Schulhaus in Aesch, schreibt Förderer: «Im neuen Schulhaus soll alles sein, das zum Lehren und Lernen dient. Im neuen Schulhaus soll aber auch viel Frag-würdiges sein, das nicht zu erklären ist. (…) Wir haben ein Fragenhaus gebaut.» Damit eckt Förderer auch bei der Stadtbasler Variante nicht bloss im übertragenen Sinn an. Offene Fragen sind in der Architektur nicht gern gesehen. Es ist also wenig überraschend, dass Förderers Ansatz bereits zur Bauzeit zwiespältige Reaktionen in der eigenen Zunft hervorrief.
Beim breiten Publikum dagegen scheint das Bedürfnis nach Antworten weit weniger ausgeprägt, so lange es sich um Architektur demi-sec handelt. Aber wehe, sie ist brut und sie weiss sich nicht zu erklären, dann droht massives Unverständnis für aufwändige Beton-Sanierungen und manche hätten wohl am liebsten die Abrissbirne über gefährlich niedrige Brüstungen, undichte Fenster, rostende Armierungseisen und akustisch unzumutbare Aufenthaltsräume hinwegfegen gesehen.
Im Fall des unter Schutz stehenden Brunnmattschulhauses standen solche Pläne nicht zur Debatte. Und so konnte der Kanton Anfang der Zehnerjahre eine sorgfältige Sanierung in Auftrag geben, die in enger Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege erfolgte. Ein grosses Glück und ein Grund darauf anzustossen, denn damit bleibt Basel ein Stück Architektur erhalten, dass nicht einfach schön und praktisch sein will, sondern den Mut hat, sich selbst zu hinterfragen.