Die Wunderkammern des Alexander Girard

Wo die Designstars der Nachkriegsmoderne George Nelson, Charles und Ray Eames in Bild und Wort erschienen, war Alexander Girard nicht weit. Auf den Werbungen und Fotos des amerikanischen Möbelherstellers Herman Miller der Fünfziger und Sechziger Jahre posierte das Design-Dreigestirn regelmässig. Aber während der Bekanntheitsgrad von Nelson und den Eames bis heute ungebrochen gross ist, gehört Alexander Girard zumindest in Europa zu den wenig bekannten Entwerfern. Wir schwärmen für Nelsons verspielte Wanduhren oder für den Eames Lounge Chair. Girards hierzulande bekanntester Entwurf – die Wooden Dolls – teilt dagegen nicht annähernd die Popularität jener Designklassiker.

 

Vergängliche Erzeugnisse, bescheidener Erfolg

 

Das liegt zum einen am Betätigungsfeld Girards: Als Gestalter von Interieurs und Ausstellungen, als Stoffdesigner und Grafiker blieben seine Erzeugnisse vergleichsweise vergänglich. Kommt hinzu, dass den wenigen Möbeln, die er für die Serienproduktion gestaltete, kein Erfolg beschieden blieb. Sie waren zu teuer in der Herstellung und es fehlte ihnen letztlich auch das für einen Designklassiker nötige innovative Moment. Der Nachwelt hat sich abgesehen von seiner heute im Folk Art Museum in Santa Fe gezeigten Sammlung nur wenig Fassbares seines eigenen Schaffens erhalten.
Ein anderer Grund für Girards bis anhin mässige Popularität liegt wohl darin, dass die heute etwa von Vitra reedierten Designs ein überaus buntes und zuweilen kindlich naives Schaffen zeigen, das nicht so recht in unsere Vorstellung des Mid-Century Designs passen will. Dem europäischen Publikum fehlt es vielleicht auch einfach an der amerikanischen Offenheit, sich auf lachende Sonnen und mit „Love“ beschriebene Herzen in knalligen Farben einzulassen. Tatsächlich zeigen diese grafischen Arbeiten, die heute als Dekoration für Kaffeetassen bis zum Wandpanel herhalten müssen, nur einen kleinen Teil von Girards Werk. Als isolierte Deko-Elemente verfälschen sie zudem die Sicht auf den Gestalter, dessen grösste Kunst darin bestand, ganze Welten entstehen zu lassen, und gerade nicht darin, Einzelobjekte zu entwerfen.
Der Hang zum phantasievollen Gesamtkunstwerk zeigt sich bereits in seinen Jugendjahren. Zwei Jahre nach seiner Geburt 1907 in New York zogen die Girards nach Florenz in die Heimat des Vaters. Hier in Italien wuchs Girard in einem von der Renaissance geprägten Umfeld auf: Seine Familie handelte mit Antiquitäten, stellte aber auch selber Stilmöbel her, entsprechend glich die eigene Wohnung dem Innern eines Palazzos. Mit zehn Jahren besucht Girard ein Internat in London und studiert anschliessend Architektur.

 

Fantasie ohne Ende

 

Während seiner Londoner Zeit erfindet Girard das imaginäre Land „Republic of Five“, dessen verschworene Gemeinschaft sich aus den Familienmitgliedern rekrutiert. Girard entwirft Landkarten, Münzen, eine eigene Geheimsprache mit Wörterbüchern, ja sogar Briefmarken. Allein die Menge an überlieferten Dokumenten bezeugt den Ernst, mit dem Girard diese Spinnerei betrieb. Sie nimmt vorweg, wofür sich Girard sein ganzes Leben im Bereich des Wohnens einsetzen wird: Nämlich das Alltägliche als ein Universum zu gestalten, das man nicht müde wird, von Neuem entdecken zu wollen.
Nachdem Girard in den Dreissiger Jahren in die USA zurückgekehrt war, arbeitete er zuerst in New York und später im boomenden Detroit als Innenarchitekt und betrieb daneben meist einen Mix aus Showroom und Verkaufsgeschäft, wo er seine neuesten Ideen austestete. Aus dem imaginären Land seiner Schulzeit waren reale Einrichtungen für meist begüterte Kunden geworden. Für seine Karriere entscheidend war seine Anstellung beim Radiohersteller Detrola in den Vierziger Jahren. Hier entwarf er nicht nur die Kantine, sondern auch die Sperrholzgehäuse für Radios und kam so über den Sperrholzlieferanten Evans mit Charles Eames in Kontakt, der angeblich bei seinem ersten Besuch angesichts der Pläne an Girards leerem Arbeitsplatz die Notiz hinterlassen haben soll, dass er sehe, dass man ihn hier nicht brauche.
Einige Jahre später wird Girard beim Möbelhersteller Herman Miller als Leiter der Textilabteilung eingestellt. Es folgen hunderte von Stoffentwürfen, die mehrfach ausgezeichnet werden. Daneben entstehen Girards wichtigste Inneneinrichtungen: Für das Ehepaar Miller richtet er das heute als einziges zugängliche Interieur des sogenannten Millerhaus ein, schafft mit einer riesigen Sitzmulde verschiedene Ebenen und belebt so das Wohnerlebnis. In New York entsteht das Restaurant La Fonda Del Sol, das einen in die mexikanische Wunderwelt der Ornamente und Farben eintauchen lässt. Hinzu kommen zahlreiche Ausstellungen, die von der „Exhibition For Modern Living“ über die Landwirtschaftsmaschinengeschichte für den Traktorenhersteller John Deere bis zur Schau von Girards Krippensammlung reichen. Geschickt führt er das Publikum auf unerwarteten Wegen durch die Exponate, die er auf verschiedenen Ebenen organisiert, schafft Nischen und versteckte Räume, die die Neugier der Besucherinnen und Besucher wecken.

 

Gebührende Inszenierung

 

Dem Designstudio Raw Edges ist es mit seiner Inszenierung von Girards Universum im Vitra Design Museum gelungen, die Lust auf Entdeckungen zu wecken. Dabei haben Yael Mer und Shay Alkalay Girards Techniken gleich selbst auf den Meister angewandt. So trifft man allenthalben auf Einrichtungen, die gleichermassen dokumentiert und inszeniert sind. Kontraste wie die Leichtigkeit der schwebenden Textilentwürfe zur übervollen Vitrine mit hunderten von Objekten, die in die Tiefe gestapelt sind, wirken überaus belebend. Die Ausstellung schafft es damit, trotz beschränktem Platz nicht bloss einen Eindruck von Girards unfassbar vielfältigem Schaffen zu vermitteln, sondern lässt einen gleichzeitig seine Fähigkeiten als Innenraumgestalter erleben. Das sind beste Voraussetzungen dafür, Girard in Zukunft nicht mehr bloss als lustigen Dekorateur des letzten Jahrhunderts in Erinnerung zu behalten.

  1. 1
  2. 2
  1. 1Entwurf für ein Textilpanel/ "Love Heart" Illustration, frühe 1970er Jahre. © Vitra Design Museum
  2. 2Alexander Girard in seinem Atelier, 1950er Jahre. © Vitra Design Museum