Stumme Erzähler

Stapel weisser Kartonschachteln finden sich in Verena Thürkaufs Werk der letzten Jahre an den verschiedensten Orten. Sie gehören zu einer Gruppe von Arbeiten, die ganz ohne Worte auskommen und trotzdem von höchst kommunikativem Charakter sind. Ihre vermittelnde Funktion scheint zunächst auf einer räumlichen Ebene stattzufinden, denn erst der durch Wände, Decke und Boden begrenzte Zwischenraum schafft die Bedingung, unter der diese Arbeiten möglich werden. Dieser Umstand mag den Blick zunächst auf räumliche Beziehungen als übergeordnetes Thema lenken. Tatsächlich kommen hier aber Aspekte zum Ausdruck, die über das Thema des Raums hinausgehen und die auf einen erzählerischen Gehalt hindeuten.
Grundlage jeder Erzählung ist die zeitliche Verlaufsform. Erst das Nacheinander der Ereignisse macht räumliche Bewegungen überhaupt möglich. Bei den Kistenstapeln tritt der zeitliche Aspekt gleich mehrfach zutage und gerät so zur dominanten Eigenschaft.
Schon für die früheste Arbeit ‘Warten’ (2000) gilt, dass sie exakt jenen Punkt innerhalb einer zeitlichen Abfolge wiedergibt, an dem sich Vorher und Nachher treffen: Die Kisten wurden in verschiedenen Lagen bis zur kompletten Füllung der Nische aufeinander geschichtet. Nun aber droht der Stapel nach vorne zu kippen und zusammenzustürzen. Was sich dem Betrachter zeigt, ist der zeitliche Nullpunkt, an dem sich Ausgangslage und Resultat in einem unendlichen Augenblick gegenüberstehen. Eben dieser Umschlag einer Sache in ihr Gegenteil bildet die typische Form erzählter Strukturen.
Was sich anfangs als bloss räumliches Dazwischen zeigt, erweist sich auch als eine zeitliche Mittelstellung. So wie die Wände der Nische die räumliche Grundlage für die Lage der Schachteln bilden, wird das zeitliche Dazwischen durch die Anwesenheit von Vergangenheit und Zukunft überhaupt erst sichtbar. Bei allen Schachtelarbeiten verweist der Jetztzustand auf das, was bereits geschehen ist, und das, was noch erwartet wird.
Besonders stark drängt sich der Vergangenheitsbezug etwa bei ‘Haltlos I’ und ‘II’ auf, weil sich der Betrachter unweigerlich mit der Frage konfrontiert sieht, wie die Schachteln in den schwebenden Zustand gebracht wurden. Mit dieser rückwärts gewandten Frage gerät die Künstlerin als eine der beiden Hauptfiguren der Erzählung ins Blickfeld. Die Anwesenheit in ihren Arbeiten ist typisch für Verena Thürkaufs Schaffen: Berührungsspuren sind häufig Bestandteil ihrer Werke, wie etwa bei ‘Wandteil’ oder ‘Handle With Care’, wo rote Fingerabdrücke den Eingriff der Künstlerin dokumentieren. Bei den Kisten sind diese Spuren oberflächlich im weissen Anstrich gegenwärtig – deutlicher werden sie allerdings im gewollt prekären Zustand der Konstruktionen selbst.
Wenn die Vergangenheit der Künstlerin gehört, dann drängt sich für den Zukunftsbezug die Assoziation mit dem Betrachter auf. Bei ‘Paradigmenwechsel’ zeigt sich diesem zunächst ein Schachtelturm, der aus dem Treppenauge emporsteigt. Die Regelmässigkeit der Schichtung lässt ihn nicht erahnen, auf welch instabilem Fundament der Turm steht. Erst wer die Treppe hinunter steigt, wird der bedrohlichen Lage der Kisten gewahr, die zwischen den Treppengeländern hängend dem Druck jeden Moment nachzugeben drohen. Die unsichere Lage evoziert auch hier unweigerlich die Vorstellung dessen, was kommen wird. Der Zukunftsbezug ist also im Reflexionsraum des Betrachters zu suchen, der damit zur zweiten Hauptfigur wird.
So wortlos die weissen Schachteln im ersten Moment auch erscheinen mögen, sie erzählen eine Geschichte, die nicht nur zwischen den sichtbaren räumlichen Begrenzungen vermittelt, sondern auch zwischen dem Aktionsraum der Künstlerin und dem zeitlich nachgelagerten Vorstellungsraum des Betrachters. Der konkrete Inhalt dieser Geschichte ist dabei nicht festgeschrieben, sondern wird durch die verschiedenen Betrachter variiert. Gemeinsames Thema bleibt aber immer die Kunst selbst als vermittelnde Instanz.